„Geh halt zum Arzt“, raten wir uns gegenseitig, wenn eine Wunde nicht heilt, oder wenn die Kopfschmerzen nicht aufhören, wenn man aus Versehen in die Steckdose gefasst hat oder wenn das laute Summen im Ohr nicht verschwindet, obwohl eigentlich alles ganz still ist. Ärzt*innen und die dazugehörenden Kliniken scheinen der Universalschlüssel der kollektiven Gesundheit zu sein, die Werkstatt für das System Mensch, diejenigen, die in der Lage sind, unserer Fähigkeiten, körperlich und auch geistig, wiederherzustellen. Wenn man selbst nicht aus diesem Feld kommt oder Angehörige hat, die das tun, dann sieht man Mediziner*innen oft nur als weiße kompetente Kittel, die viel Geld verdienen. Dass sie oft sehr müde sind, sehr wenig Zeit für ihre Familien haben, sehr unter den gesundheitspolitischen Strukturen leiden und ewig studiert haben, das sieht man nicht. Muss man auch nicht, wenn man unter Leidensdruck steht und medizinische Hilfe braucht. Wenn es dann aber wieder geht mit der eigenen Gesundheit, dann sollte man schon einen Blick auf die Menschen werfen, die immer wieder dafür sorgen, dass das auch so bleibt.
Großer Bedarf und große Hürden
Jede*r kennt das: Genervt hunderte Ärzt*innen abtelefonieren, weil neue Patient*innen nicht aufgenommen werden, oder weil der nächste Termin im Dezember frei ist, und es gerade erst Dezember war, man aber heute Schmerzen hat, oder wirklich dieses Jahr noch zum Hautkrebs-Screening gehen wollte. In ganz Deutschland herrscht ein medizinischer Versorgungsengpass. Vor allem auf dem Land gibt es zu wenig Ärzt*innen. Nun sollte man meinen, auch vor dem Hintergrund, dass die Boomer so langsam in Rente gehen, dass alles dafür getan wird, Nachwuchs auszubilden und das Medizinstudium attraktiver zu gestalten. Das Gegenteil ist aber der Fall. Nach zehn Semestern Dauerstress, Famulaturen in den Semesterferien und zwei Staatsexamen killt das Praktische Jahr (PJ) die spärlich vorhandene Work-Life-Balance komplett.
Heute ist Aktionstag #fairesPJ, der von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland organisiert wird. Mich macht das Thema sehr nachdenklich, und als ich mir heute in Tübingen die Demonstration angeschaut habe, an der sich fast 450 Medizinstudierende beteiligten, wurde ich sehr wütend. Mir fällt es schwer, nicht in Aktionismus zu verfallen, weil ich es beinahe unmöglich finde, neutral über ein Thema zu berichten, bei dem so offensichtlich einiges falsch läuft. Jeder Mensch braucht im Laufe seines Lebens unzählige Ärztinnen und Ärzte. Wir haben in Deutschland das Glück einer funktionierenden und sehr guten Gesundheitsversorgung, die finanziell stemmbar ist, auch wenn man sich über den Krankenkassenbeitrag aufregen mag. Mein Partner studiert Medizin und ich sehe jeden Tag, wie unfassbar stressig und emotional anstrengend dieses Studium ist. Neben meiner privaten Betroffenheit sehe ich die Tatsachen, wie die Kommerzialisierung des Gesundheitssystems und die unfairen Bedingungen vor allem im Praktischen Jahr, denen Menschen ausgeliefert sind, die sechs Jahre Ausbildung oder mehr hinnehmen, um als Arzt oder Ärztin anderen Menschen helfen zu können. Ich frage mich, wie frustrierend das Thema für Menschen sein muss, die tatsächlich und nicht nur als Angehörige betroffen sind, und weil ich nicht viel machen kann, außer meinen Unmut zu teilen, und über die Zustände zu informieren, schreibe ich diesen Text. Denn wir alle sollten ein Interesse daran haben, dass es denen gut geht, die jeden Tag versuchen, dass es bei uns genauso ist.
OP-Haken halten für drei Euro pro Stunde
Kurz für die, denen PJ ein Fremdwort ist: Das Praktische Jahr schließt das Humanmedizinstudium nach zehn Semestern ab. In drei Abschnitten, die jeweils 16 Wochen dauern, übernehmen die Studierenden in den Bereichen innere Medizin, Chirurgie, und in einem Wahlfach unter Supervision ärztliche Aufgaben. Das theoretische Gelernte soll in diesem Zeitraum praktisch geübt werden. Ähnliche Ausbildungen gibt es nach dem Studium für Jurist*innen, Lehrer*innen und Pharmazeut*innen. Es ist wichtig, dass es diese Zeit zum Lernen gibt. Dass Problem ist auch nicht das PJ an sich, sondern die Umstände, in denen es stattfindet. Anstatt einem Gehalt bekommen Studierende, die genauso wie das medizinische Fachpersonal Vollzeit in der Klinik arbeiten, eine Aufwandsentschädigung von 507 Euro, zumindest in Tübingen. Das sind umgerechnet weniger als drei Euro pro Stunde für ärztliche Tätigkeiten. Vor dem Hintergrund, dass ein zehnsemestriges Studium hinter den PJlern liegt, unzählige Famulaturen und zwei Staatsexamen, finde ich das eine Farce. Von 507 Euro kann man sich dank Inflation und schwieriger Wirtschaftssituation aus offensichtlichen Gründen kaum noch ein WG-Zimmer leisten. Wer zehn Stunden im OP steht möchte sicherlich auch etwas anderes essen als Nudeln mit Nudeln, und jede angehende Ärztin, die neben ihrem Vollzeit-Job noch einen Nebenjob machen muss, die braucht sehr bald selbst einen guten Arzt. Trotz Unzumutbarkeit geht es 30 Prozent der Studierenden so. Laut einer Umfrage, die mir die medizinische Fachschaft weitergeleitet hat, muss fast jede*r dritte PJler*in einem Nebenjob nachgehen. Bei einem solchen Work-Load, der belastend ist, unzureichend bezahlt und dadurch auch als geringgeschätzt verstanden wird, braucht es regelmäßige Tage der Entspannung. Aber auch das ist in einem Praktischen Jahr unmöglich. Studierende dürfen 30 Tage fehlen, Krankheitstage inbegriffen. Ich frage mich, was mit den Frauen ist, die monatlich so starke Regelschmerzen haben, dass sie nicht zur Arbeit kommen können? Das sind übrigens circa 10 Prozent der weiblichen deutschen Bevölkerung. Was ist außerdem mit den Menschen, die sich den Fuß verstauchen, oder Migräne haben? Oder psychisch so belastet sind, dass sie einfach mal eine Pause brauchen? Dass Urlaubs- und Krankheitstage nicht voneinander getrennt sind, finde nicht nur ich, sondern auch alle der fast 100.000 Medizinstudierenden in Deutschland komplett unverständlich. Wie soll man den bestmöglichen Job machen, bestmöglich lernen und Spaß an der Arbeit finden, wenn man permanent an der Belastungsgrenze kratzt?
In Tübingen wird gepfiffen und geklatscht als Tobias Löffler von der Fachschaft Medizin bessere Bedingungen für alle fordert. Auf den Schildern der Studierenden stehen Sachen wie: „Lassen Sie mich Arzt, ich bin durch“, oder „Morbus PJ – krank im Krankenhaus.“ Die Studierenden in Tübingen wurden für die Demonstration freigestellt – jedenfalls die Hälfte von ihnen. Anstatt Kaffee trinken zu gehen oder zu schlafen, stehen sie in der Hitze und kämpfen für bessere Ausbildungsbedingungen. Das berührt mich, weil ich Menschen sehe, die Lust haben zu arbeiten und sich ausbilden zu lassen. Ich frage mich, was sich ein Land mehr wünschen kann, als junge hoch motivierte Akademiker*innen?
Das System ist fast kranker als die Patienten
Schuld an den schlechten Arbeitsbedingungen für PJler und auch für fertig studierte Ärztinnen und Ärzte, denen die Kapazitäten fehlen, PJler richtig auszubilden, ist das Gesundheitssystem. Es bedarf einem eigenen Text, wahrscheinlich einer kompletten Serie, das System Krankenhaus einmal aufzurollen, trotzdem möchte ich es hier kurz anschneiden. Mit der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens ist das Wirtschaften mit und an Krankheit gemeint. Das wirtschaftliche Gedeihen des Krankenhauses, nicht mehr die bestmögliche Genesung des Menschen steht im Vordergrund, und weil Kliniken und Praxen Einspar-Vorschriften des Bundes einhalten müssen, leiden sowohl Ausbildung wie auch Behandlung. Die Bundesärztekammer hat schon 2019 vor der Entmenschlichung des Gesundheitssystems gewarnt, die mit der Privatisierung sämtlicher Kliniken und Krankenhäuser einher geht. Weil Geld aber schwerer zu wiegen scheint als Gesundheit, hat sich dieser Trend bisher nicht umgekehrt. Und darunter leiden letztendlich wir alle.
„Es wäre einfach schön, Sachen erklärt zu bekommen“, sagt Tobias Löffler nach der Demonstration zu mir. Er ist nicht nur in der Fachschaft Medizin und hat die Demo mitorganisiert, aktuell macht er selbst PJ in der BG-Klinik. Er berichtet von einem anstrengenden Arbeitsalltag, der zum Großteil aus OP-Haken halten bestehe. Als PJler seien die Studierenden fest in die Strukturen eingeplant: Als Arbeitskräfte, nicht als Auszubildende. Anstatt eine angemessene Ausbildung zu erfahren gleichen sie auf diese Weise die Misswirtschaft im Gesundheitssystem aus und fungieren als sehr, sehr billige Arbeitskraft. Dass die mentale Gesundheit unter dem Stress leidet, ist für mich kein Wunder.
Während Tobias mit anderen Helfenden Musikbox und Schilder wegräumt, denke ich darüber nach, wie es wäre, Ärztin zu sein. Ich habe mir den Beruf früher immer sehr schillernd vorgestellt, mit viel Prestige und mit viel Sinn. In diesem Moment spüre ich Frust und Müdigkeit. Ärztinnen und Ärzte sind die wichtigsten Räder im Gesundheitssystem. Wenn sie ausfallen, dann funktioniert mittelfristig gar nichts mehr. Ich wünsche mir sehr, dass die Missstände in diesem System in Zukunft lauter und breiter diskutiert werden und dass sich vor allem an den unwürdigen Zuständen im PJ etwas ändert. Jurist*innen zum Beispiel bekommen im Referendariat 1502 Euro und Lehrer*innen 1385. Jeder dieser Berufe hat seine Daseinsberechtigung, aber Medizin hat es genauso verdient, fair entlohnt zu werden. Daran sollten wir alle nicht erst denken, wenn wir das nächste Mal einen Arzt oder eine Ärztin brauchen.
Im sehr un-journalistischen und aktivistischen Sinne: Unterschreibt diese Petition. Bitte, danke.
Header-Image: Unsplash
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